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Text von Petra Giloy-Hirtz aus dem Buch "Gran Paradiso", Hirmer, 2023

Inmitten der Stadt mit einem Berg von Stephan Huber zu leben, wie ist das? Mit einem Berg, der weiß aus der weiß getünchten Wand der Wohnung ragt: das Modell als Fragment eines wirklichen Berges, ein Kranz, zerklüftet, nicht Abguss oder Scan, sondern geformt von der Hand des Künstlers. Bei allem Artifiziellen holt er die Erinnerung an den anderen Ort hervor, an das wirkliche Gebirge, weckt er Sehnsucht und die Lust nach draußen. Seine Betrachtung löst eine eigentümliche Stimmung aus, eine Träumerei im Alltag, die den Träumer hinaus in eine andere Welt versetzt, die das Merkmal einer Unendlichkeit trägt, wie Gaston Bachelard es in seiner Poetik des Raumes (1957) beschreibt. Fern von den Unermesslichkeiten „können wir durch die einfache Erinnerung, meditierend, in uns die Nachklänge dieser Kontemplation der Größe erneuern“. Der Berg, für Stephan Huber die „unhinterfragbare, perfekte, ideale Skulptur“, erhebt sich dominant im gesamten OEuvre des Künstlers in einer Fülle seiner Erscheinungsformen, einer Vielzahl von Medien und Materialien. Von der Postkarte zum Buch, dem frühen Roten Bergbuch (1979) oder dem Kletterbuch (1980), von kleinen Objekten zu raumfüllenden Installationen; als Siebdruck auf Marmor, Siebdruck auf Glas, als Leuchtkasten oder die Konturen der Gipfel in Neonlinien auf die Wand gebracht. Passwege, Bergkränze, Zeichnungen auf Landkarten (ab 1998) und Spiel mit historischen Fotografien legendärer Expeditionen. Berge in jedweder Form und Dimension, erfunden oder in idealisierter Weise der topografischen Realität nachgeformt, verschmol zen mit dem Sockel, gekippt im Raum oder vertikal an der Wand, an Seilen von der Decke hän gend. Stephan Huber hat die Berge aus den Alpen in den öffentlichen Raum des Flachlandes versetzt. Er hat sie riesig ins Regal gestellt, sechsstöckig, in den künstlichen See vor der Messe München (Grand Paradiso, 1997), und über Stockwerke ihr Schmelzwasser von den Gipfeln hinabstürzen lassen (Die Alpen, 1992, am Flughafen München). Er holt sie ins Haus wie Ein - bauten (Saussures Herz, 2001) oder formt sie als Landschaft wie ein Bühnenbild (Shining, 2001). Er inszeniert sie in gleißend hellem Licht oder dramatisch im Dunkel, ob in elegant profanen Sälen oder im sakralen Raum, in kühler Perfektion oder Unordnung und Chaos der Umgebung wie im Arsenale in Venedig. Eine solche Obsession, die immer neue und aufregende Formen gebiert, sie hat ihre Wurzel offenkundig in Kindheitserfahrungen. Aufwachsen im Westallgäu, „immer die Wand vor dir“, 150 Kilometer Berge, Weiß von Ende Oktober bis Ende April, wie eine „stumme Decke“ über alles. Eine Welle aus Schnee, die alle Geräusche verstummen lässt; die Welt im Winter: Gefangenschaft. Und dennoch, lieber die Berge als Begrenzung im Süden als im Norden die Öde. Die Mutter nimmt den Jungen mit, auf Fellen unterwegs schon im Alter von fünf Jahren, er wird eingeweiht in die Schneewelt, die da womöglich ein wenig von ihrer Monotonie und Langeweile verliert. Eine Ge gen welt aber tut sich dem Kind auf in der Literatur des Großvaters. Die ganze Welt war hier Sommer, bunt: Stiche vom Amazonas, Walt Disneys Die Wüste lebt, der Atlas, topografische Karten ... Sein Elternhaus hat Stephan Huber in späteren Arbeiten in die Schneewelt versetzt, offenkundig als einer Metapher der Kälte (Family Affairs, 2016). Er selbst wird vom „Allgäuer Schneemenschen“ mit 18 Jahren zum Städter, geht nach New York, nach Paris, wird zum urbanen Menschen und feiert dies als Befreiung. Wenn man ihn heute besucht, dann findet man Stephan Huber im Allgäu wieder, zumindest sein Studio, eine alte Mühle. Ein Ort von unfassbarer Schönheit und Faszination. Nichts scheint sich da zwischen Haus und Bergketten zu schieben, kein Wald, kein Dorf: eine weite Ebene – und dann ...

Stephan Huber stellt in vielen seiner Arbeiten die Welt auf den Kopf, indem er Maßstäbe verändert, Miniatur und Monumentales verschränkt, oben und unten vertauscht und so Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzt. Der alltäglichen Lebenswelt entliehene Objekte wie Hut, Werkzeugkasten oder Schubkarre enthebt er zum Staunen der Betrachtenden – durchaus auch mit Witz und Humor – in fremden Kontexten ihrer Banalität und Vertrautheit: Eichenparkett an der Decke, Kronleuchter am Boden, hängende Wände, vom Firmament stürzende Gestirne. Es sind surreale Interventionen in eine vermeintliche Normalität, die Kunst in das soziale Ganze einbinden will – im utopischen Vertrauen in deren Wirkungsmöglichkeiten. Und doch zeigt sich nichts mit solch barocker Wucht in seinem Werk wie der Berg, für Stephan Huber der „Archetyp von Pathosform“. Zentrum der Erde, Weltachse, imago mundi, Schnitt stelle zwischen Himmel und Erde, Pforte der Götter, Symbol des Aufstiegs und des Übergangs, so lehrt es die Symbolforschung: Das Gebirge ist Zeichen der Wiedervereinigung, das erste und heiligste Heiligtum, der Archetypus aller Tempel. Deshalb sind frühe Tempel als zentraler, mehrstufiger Berg gebaut wie die asiatische Stupa, der Tempel ist dem Berg gleichgestellt. Wie viele Kirchen sind auf dem Berg erbaut, um dem Himmel näher zu sein! Bei Stephan Huber ziehen die Berge in den Tempel ein. Naturform wird hier zur Kunstform ohne große Abstraktion: Weisshorn, Civetta, Sassolungo. Nur um das „Modell“ des Weltenschöpfers an Pathos und Dramatik zu übertreffen, ist die Vertikale verdeutlicht und die Proportion nach oben zum Gipfel hin überhöht. Vier Berge hintereinander – der vierte ist ein Fantasiestück, frei aus der Erinnerung nach dem Film Unheimliche Begegnung der dritten Art (1977) von Steven Spielberg –, sie bilden ein spektakuläres Kraftzentrum im Mittelschiff der Kirche Heilig-Geist in Landshut im Kontext der Ausstellung Schöpfung (1999). Eine Augenweide und emotionale Erfahrung: Kirche und Berg, Heilig-Geist und Alpen, nach oben strebende Pfeiler, dramatisierte Gipfel und darüber das hohe Netzgewölbe wie ein Himmelszelt – die Installation zeigt Stephan Hubers ganze Lust an effektvollem Schauspiel und Hintergründigkeit.


Petra Giloy-Hirtz

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