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Text von Stephan Berg aus dem Buch "Gran Paradiso", Hirmer, 2023

Mit den Bergen greift Stephan Huber ein Motiv auf, dem in der Bildenden Kunst und der Literatur im Grunde erst seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Bedeutung zukommt. Über viele Jahrhunderte wurden Berge dagegen nicht als ästhetische Erscheinungen wahrgenommen, sondern allein als menschenfeindlicher Gegensatz zur bewohnbaren, zivilisierten Welt. Aufgrund ihrer Unzugänglichkeit, ihrer zum Himmel strebenden Vertikalität galten sie seit der Antike als legitimer Sitz der Götter. Und die bis weit ins 16. Jahrhundert reichende Hemmung der Menschen, die Welt von oben zu betrachten, hatte genau darin ihren Ursprung: In einer göttlichen Sphäre hat der Mensch nichts zu suchen. Die Beschreibung von Hannibals Überquerung der Alpen in einem Schneesturm durch den römischen Geschichtsschreiber Titus Livius, die William Turner im 19. Jahrhundert zu einem eindrucksvollen Bild verdichtete, verfestigt über lange Zeit die Vorstellung des Gebirges, und insbesondere der Alpen, als locus horribilis. Eine entsprechend marginale Rolle spielen Berge lange Zeit in der Kunst. Wenn überhaupt, bilden sie, wie in der Sieneser Malerei des 13. Jahrhunderts, nicht lokalisierbare Hintergründe für Altarbilder.

Als ältestes Landschaftsbild, das einen präzise benennbaren Berg zeigt, darf der Genfer Altar von Konrad Witz aus dem Jahre 1444 gelten, der neben dem Genfer See im Hintergrund den Mont Blanc zeigt, gefolgt von Albrecht Dürers Alpenaquarellen (1494/95). Wichtige Impulse für eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Berg liefert auch Leonardo da Vincis Traktat von der Malerei (1517) mit seinen Gebirgsnotizen, welche die Gebirgsdarstellungen bis hin zur Romantik beeinflussten. Den Menschen des Mittelalters erschienen die Berge schon aufgrund der Tatsache, dass sie landwirtschaftlich nicht nutzbar waren, ausschließlich als Hindernis zwischen den Städten, die miteinander nur schlecht verbunden waren. Dem horizontalen Prinzip der Erschließung der Welt stellte ihre Vertikalität eine fundamentale Barriere entgegen, die zunächst mit Sinn gefüllt werden musste, bevor man die Berge als ein Ziel begreifen konnte. In seiner Göttlichen Komödie (1321) beschreibt Dante den Aufstieg auf den Läuterungsberg zusammen mit Vergil an drei Apriltagen des Jahres 1300 als Prozess einer fortschreitenden Reinigung und legt damit die Basis für eine Verknüpfung zwischen der Bergbesteigung und einem Prozess der Transzendierung des Materiellen zum Geistigen. Antipodisch mit den Höllenkreisen verknüpft, wird der Läuterungsberg so zu einem Ort der Offenbarung transzendenter Wahrheiten.

Einen entscheidenden Bedeutungswandel erfährt der Berg in Francesco Petrarcas berühmter Beschreibung seiner Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336. Sein Entschluss, diesen Gipfel „lediglich aus dem Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen“, zu erklimmen, begründet ein neues Verhältnis zur (Berg)Natur, das seine Erfüllung allein in der ästhetischen Wahrnehmung findet. Der Berg ist hier kein Ort, an dem sich göttliche Wahrheiten offenbaren, sondern der von einem selbstbewussten Subjekt gewählte Gegenstand für einen ästhetischen Blick, mit dem sich die umgebende Natur in eine überschaubare, genießend betrachtbare Landschaft verwandeln lässt. Damit wird dieser Bericht auch zum Zeugnis für ein neues humanistisches Weltbild, das den Menschen mit seinen eigenen Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt und damit einen Vorschein auf den neuen Menschen der Renaissance liefert, der sich vom mittelalterlichen Ich zu einem die Welt formenden Subjekt emanzipiert. In der Folge rücken die zunächst vorwiegend als Hintergrundkulisse eingesetzten Berge vom Quattrocento bis ins 18. Jahrhundert immer mehr in den Vordergrund und beanspruchen dort ihren Ort als autonomes Thema.

In Edmund Burkes Philosophischen Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757) wird der Berg dann zum Kulminationspunkt eines Schönheitsbegriffs, der gerade auf dessen Menschenfeindlichkeit aufbaut. Die schneeig-weißen, unbetretbaren Gipfel strahlen eine eisige Schönheit aus, deren Kraft genau darin liegt, dass sie den Menschen nicht braucht, dass sie das völlig unabhängige Walten der von Gott geschaffenen Natur verdeutlicht. Caspar Wolfs auf genauer Naturbeobachtung basierende Gebirgsbilder, etwa Die Sustenstraße gegen die Passhöhe (1777), mit ihren winzigen Figuren vor den gewaltigen Naturszenen sind ein bestechendes Beispiel für die Doppelstrategie, die in den Bergdarstellungen dieser Zeit wirkt: Sie feiert einen Begriff von Natur, deren Erhabenheit in ihrer Unabhängigkeit vom Menschen besteht. Und sie befriedet den Schrecken, der darin liegt, zum ästhetischen und damit konsumierbaren, beherrschbaren Bild. Fundiert wird diese Haltung nicht zuletzt durch eine Fülle geschichtsund naturphilosophischer Konzepte, in denen das Gebirge die Projektionsfläche einer idealen, göttliche Prinzipien spiegelnden Ordnung bildet. So beschreibt beispielsweise Albrecht von Haller in seiner aus einem antiurbanen Impuls entstandenen Dichtung Die Alpen (1729) das Gebirge als Ausdruck einer arkadischen Harmonie. Immanuel Kant (1724–1804) und Friedrich Schiller (1759–1805) definieren die Erhabenheit der natürlichen Berglandschaft als Zustand der Freiheit. Zu nennen ist hier auch Jean-Jacques Rousseau mit seiner Die neue Heliose (1761), ebenso wie Ralph Waldo Emerson (1803–1882) und seine Verehrung der Natur als Spiegel der göttlichen Ordnung. Auch wenn heute selbst der Mount Everest zum Ziel eines Massenalpinismus geworden ist, der regelmäßig am Hillary Step für Stausituationen sorgt, und es insofern mit der Freiheit und unberührten Einsamkeit in den Bergen nicht mehr so weit her ist: Noch in jedem heute neu erschlossenen spektakulären Skigebiet mit seinen euphemistisch „Aufstiegshilfen“ genannten Transportschneisen in die felsigen Flanken der Berge steckt ein letzter Rest dieser Sehnsucht nach menschenloser Erhabenheit.

Die fast schon obsessive Intensität, mit der sich Stephan Huber mit Bergen beschäftigt, hat einerseits mit ihrer oben geschilderten paradoxen, janusköpfigen Qualität zu tun, die sie zu einem ergiebigen Gegenstand für seine stets ambivalenten skulpturalen Untersuchungen macht. Andererseits spiegelt sich darin auch ganz direkt die Herkunft des Künstlers aus dem Allgäu. Der dort stets präsente Hintergrund der Schneegipfel, „ihre erhabene Größe, die zugleich den Blick beengt, verbunden mit dem sinnenfrohen Katholizismus Bayerns und der barocken Kulissenästhetik seines zweiten Lebensortes München, bilden gewissermaßen den „Wurzelgrund“, aus dem sich dieses Lebenswerk speist. Dabei können die Berge, auf die sich Stephan Huber bezieht, sowohl fiktiv sein – beispielsweise der Berg aus Steven Spielbergs Close Encounters of the Third Kind (1977) –, wie auch präzise Nachbildungen realer Berggipfel. Allerdings bezieht sich die Präzision, die der Künstler dabei anstrebt, eher auf das Idealbild des jeweiligen Berges als auf seine topografische Wirklichkeit. Die aus Dentalgips geformten Gipfel sind entsprechend immer so angelegt, dass sie eine perfekte Schauseite bieten und damit ihren Status als bildhafte Idealisierungskulissen unterstreichen. Der Modellcharakter dieser aus Rigipssockeln herauswachsenden, wohnzimmertauglichen Bergskulpturen macht sie zu den beherrschbaren ästhetischen Konstrukten, die wiederum das Ergebnis einer über Jahrhunderte entwickelten kulturellen und touristischen Praxis sind.

Beispielhaft zeigt sich die Huber-typische Verschränkung aus biografischem Regionalismus, suggestiver Überwältigungsästhetik, bühnenhafter Konstruktion und ironischer Distanzierung an seiner 1997 für die Neue Messe in München entstandenen Arbeit Gran Paradiso, die auf einem riesigen Regalsystem die wichtigsten Alpengipfel als strahlend weiße Modelle vor der bei Föhn sichtbaren wirklichen Kette der Alpen und in einer gigantischen Vitrine die wichtigsten Alpenflüsse als Neonkarte präsentiert. Gleich in doppelter Hinsicht spielt Huber hier mit Größe und Maßstab der verhandelten Elemente: Die in Wirklichkeit eher kleinen Regale und Vitrinen erscheinen monströs übersteigert, während die real gewaltigen Berge und Flüsse zur überschaubaren Regalware werden. Analog zum Standort bei der Neuen Messe wird zur Ware auch das, was als realer Bestandteil unserer Landschaft eigentlich nicht handelbar ist. Andererseits folgt Huber damit exakt den Vernutzungsstrategien heutigen Konsumdenkens, in dem die Föhnkulisse der Alpen vor allem als ein image- und damit verkaufsförderndes Argument für den Handelsstandort der Münchner Messe gesehen wird. Die bei Föhn mögliche Verblendung aus realen und modellhaften Berggipfeln zeigt darüber hinaus eindrücklich, wie sehr wir die Realität längst schon vor allem in seiner Form als modellhaftes Bild genießen. In gewisser Weise entspricht so eine Postkarte vom Matterhorn viel eher unserer Erwartung von der Wirklichkeit dieses Berges als seine Realität, schon deswegen, weil sich dieser Berg nur selten in der verdichteten Prägnanz zeigt, die das Foto bietet. Die überschaubare Größe dieser Replikatgipfel zitiert ebenso eine verlorene Erhaben heit wie das strahlende Weiß der Bergimitate, welches das eisige Weiß zerklüfteter Gletscherfelder nur aufruft, um es zugleich wieder ein Stück weit zu dementieren.

Hubers Bergskulpturen sind in diesem Sinn stets Modelle eines Bildes der Natur, die selbst nur als Konstruktion erlebbar ist. Erhabenheit, so signalisiert der Künstler, verkörpert die Idee einer Absolutheit, die im Bild nur als „als ob“, als ironisches Zitat Wirklichkeit werden kann. Mit seinem skulpturalen Gipfeltreffen gelingt Huber eine fulminante Balance zwischen barocker Lust an Überwältigung und Entzauberung. Die Berge sind gleichzeitig Referenz auf die regionale biografische Herkunft des Künstlers und damit Reflexion künstlerischer Verortung, scheinbare bruchlose mimetische Vergegenwärtigung, autonome Skulptur und deren Kritik, und nicht zuletzt Illusionismus und dessen gleichzeitige Dekonstruktion. In ihnen atmet einerseits die Idee des Berges als Ideal- und unkritisierbare Urskulptur, die andererseits allein schon durch die Nüchternheit, mit der das Bergmassiv umstandslos in einem weißen Rigipssockel endet, wieder von jedem möglichen Pathos befreit wird. Die Nonchalance dieser Verbindung aus Werk und Podest täuscht auf den ersten Blick über den fundamentalen Effekt hinweg, der damit verbunden ist: Gewissermaßen löst Huber das jahrhundertealte Sockelproblem, indem er Berg und Sockel als untrennbare Einheit inszeniert. Dass jeder dieser Sockelberge und Bergsockel durch unter ihnen angebrachten Rollen auch noch beweglich wird, ist eine weitere schöne ironische Volte, mit der der Künstler den Berg als Inbegriff des statisch Unverrückbaren einerseits zur mobilen, stets verfügbaren „Verhandlungsmasse“ deklariert, ohne ihm dabei aber andererseits seine innere Monumentalität völlig zu entziehen.

Diese Form der Brechung des Absoluten, der Relativierung des Reinen, findet sich durchgehend in Hubers Werk. Strukturell spiegelt sich darin immer auch der Kampf des Künstlers gegen das Fantasma einer autonomen Kunst mit ihren um sich selbst kreisenden Absolutheitsansprüchen. Stattdessen arbeitet Huber offensiv mit dem gesamten Potenzial, das die minimalgeprägte Zeit der 1970er-Jahre als Sündenfall empfand: Erzählung, Bühnenhaftigkeit, Illusion, Allegorie, Metapher, Symbol, Übertreibung, Emphase, Pathos und Psychoanalyse. So entsteht ein eigensinniges, strikt antiformalistisches Programm, das durchaus surreale Momente kennt und darüber hinaus das offene Paradox liebt, also diesen Zustand, in dem etwas zugleich als möglich und unmöglich erscheint, in dem alles, was sich zeigt, zur Kippfigur zwischen einem Noch-Nicht und Nicht-Mehr wird. Je komplexer die einzelnen Werkelemente dabei besetzt sind, umso größere ästhetische Kraft gewinnen sie für den Künstler. Immer gilt: Erst als paradoxe Bedeutungszwitter werden die einzelnen Werke gültig.

Auch die vierteilige Fotofolge Shining (2001) ordnet sich in diese Ambivalenzstrategie ein. Zu sehen ist das modifizierte Modell des Elternhauses des Künstlers, das auf einer riesigen Eisscholle inmitten bizarrer Eisberge schwimmt, deren Ausdehnung im wabernden Eisnebel verschwimmt. Das Haus in der Eiswüste ist ein deutlicher Verweis auf das völlig eingeschneite und dadurch von der Außenwelt abgeschnittene Overlook-Hotel in Stanley Kubricks Film Shining (1980). Allein schon durch die Verwendung des Filmtitels erscheint das heimelig wirkende Haus nicht als Fluchtalternative zu der menschenfeindlichen, eisigen Umgebungsatmosphäre, sondern eher als Falle. Den Schutz, den es anzubieten scheint, wird es vermutlich in Wirklichkeit nicht leisten können. Es ist weniger das Sehnsuchtsbild für eine erkaltete, nicht mehr revitalisierbare Erinnerung als eine modifizierte Paraphrase der Eismeer-Elegie von Caspar David Friedrich über eine endgültig gescheiterte Hoffnung. Es ist ein Bild für eine Verunsicherung, die draußen beginnt und innen noch lange nicht endet. Und dabei auch eine selbstironische Dekonstruktion des selbst visuell und anspielungsreich in Gang gesetzten Interpretationsangebots. Im Ablauf der Bildfolge erkennt das Publikum unschwer den Bühnenillusionismus des Geschehens. Bild für Bild bröckelt die Inszenierung, werden Trockeneisnebel, gipsbekleisterte Styropor-Eisberge und Haus als modell hafte Bühnenkonstruktion kenntlich, die nicht auf perfekte Täuschung zielt, sondern ihren Mehrwert gerade aus dem Moment der „Ent-Täuschung“, der offensiven Vorführung des Konstruierten als Konstrukt zieht.

Was immer auch in diesem Werk passiert: Nie fügt sich der allegorische Reigen aus spektakulären und stillen, aus hochdramatischen und reduziert introvertierten Werken zur konsistent erzählbaren Geschichte. Die Störung erweist sich als wichtiger als die Kongruenz. Die zwei Hauptquellen, aus denen Huber seine begehbaren Bilder schöpft, das „Reservoir des Alltags“, wie er formuliert, und das aus dem Barock gespeiste Material einer allegorischen Bildsprachlichkeit fügen sich in seinen Werken zu einer Synthese der Widersprüchlichkeit. Hubers Erzählungen vertrauen einer Bildsprache, deren metaphorischer Duktus bewusst soweit paradox aufgeladen wird, dass er genau die Grenze semantischer, psychologischer, kunsthistorischer und soziologischer Komplexität erreicht, an der er sich, ohne zu ex- oder implodieren, selbst als permanente Frage präsentiert. Die dauernde Reibung der widersprüchlichen Elemente erzeugt einen Funkenflug, in dem die Vorstellung einer „ein-fach“ zu benennenden, kausal entwickelbaren Welt verbrennt, zugunsten des Leuchtens der Funken selbst.


Stephan Berg

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