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Text von Uschi Demeter aus dem Buch "Gran Paradiso", Hirmer, 2023

Im Herzen der Dolomiten, zwischen Cortina und Belluno, steht ein Berg wie ein Podest, von dem die Panoramisten des 19. Jahrhunderts nur träumen konnten: der 2181 Meter hohe Monte Rite. Von seinem Gipfelplateau aus geht die Rundsicht in die idyllischen Täler des Cadore, auf das Grün verlassener Almen und – darüber – auf die spektakulärsten Dolomitengipfel: den Monte Agner, den Cimon della Pala, die Civetta, die Marmolata, den Monte Pelmo, den Monte Cristallo. Für Stephan Huber skulpturale Modelle, für Reinhold Messner die begehrenswertesten Kletterfelsen, und für Le Corbusier die schönsten Bauwerke der Welt. Wie die Zacken einer Krone umrunden sie den Monte Rite, und bei Nacht sieht man die Lichter in den Dörfern des Cadore, von Cortina, von Longarone, bei Vollmond zwischen zwei Felsnasen sogar die Lichter der Adriaküste von Istrien. Für Botaniker ist der Monte Rite eine Oase, wo sie auf dem Sentiero Botanico die seltensten Alpenblumen finden, für Ästheten eine Insel für die aufregendsten Sonnenauf- und untergänge in geradezu existenzverwirrendem Rosa und Blau, vergleichbar mit den Eindrücken, derentwegen sich im 19. Jahrhundert Engländerinnen in Sänften auf die Rigi tragen ließen, um bei ihrem Anblick in Ohnmacht zu fallen. Und genau hier, auf diesem paradiesischen Plateau, haben die Italiener 1914 ein Fort gebaut, mit dem sie die Soldaten des österreichischen Kaisers Franz Joseph in Schach halten wollten. 1917 besetzten die Österreicher den Monte Rite, 1918 mussten sie abziehen, nicht ohne vorher große Teile des Forts zu sprengen. Im Zweiten Weltkrieg hausten Partisanen in den Ruinen, und dann begann ein langer Dornröschenschlaf. Bis Reinhold Messner 1997 auf einer Tour durchs Cadore zufällig dieses Fort entdeckte. Langgestreckt wie ein Schiff, mit drei Gefechtsständen, die Fata Morgana eines Bergmuseums. Cibiana ist ein kleines Dorf am Fuß des Monte Rite, die Einwohner eng zusammengeduckt in Häusern aus Stein, die mit ihren Blechdächern wie rostige Osternester in den Talfurchen der Berghänge entlang der alten Passstraße liegen. Richtig bewohnt ist das Dorf eigentlich nur im Winter. Wenn die Familien der Eismacher in Deutschland ihre Läden den Teppichhändlern überlassen und in den Bars von Cibiana die Bild-Zeitung lesen. Als der italienische Staat begann, seine militärischen Anlagen zu verkaufen, hat Cibiana zugeschlagen. Irgendetwas ganz besonders Attraktives wollten sie da oben gestalten, vielleicht sogar ein Museum, noch keine Ahnung mit welchem Inhalt. Als Messner ins Dorf kam, fragte man auch ihn um Rat. Den hatte er schon parat. Das war der Beginn des gemeinsamen Projekts „Museum in den Wolken“ – das MMM Dolomites. Cibiana hatte damals einen genialen Bürgermeister, Guido de Zordo, im Hauptberuf Griechischlehrer am Humanistischen Gymnasium von San Vito di Cadore und politisch bestens vernetzt. So wurde mit EU-Zuschüssen, mithilfe der Repubblica Italiana, der Region Belluno und unter Aufsicht der Soprintendenza per i Beni Architettonici das Messner-Mountain-Museum-Dolomites-Projekt auf die Beine gestellt. Als Architekten wurden Enzo Siviero und Paolo Faccio aus Padua engagiert. 1999 entdeckte ich in Venedig auf der Harald-Szeemann-Biennale dAPERTutto in einer heruntergekommenen Lagerhalle voller Gerümpel die eindrucksvollste Landkarte Italiens, die ich je gesehen hatte: zwischen dem stumpfen Orangerot, das diesen Schrott mit Rost überzogen hatte wie Samt, schlängelte sich eine kobaltblaue Neonröhre, der Flusslauf des Po. Darin erhoben sich weiß und riesig Berge, von denen ich die meisten kannte – Dolomitengipfel. Deposito Po! Das ist meine erste Begegnung mit Stephan Huber gewesen. Ein Jahr später traf auch Reinhold Messner Stephan Huber. Auf einer Vortragsreise begegnete er der Skulptur des Langkofel in der Kunsthalle Kiel. Als ich 2001 die Projektleitung für die Einrichtung des Museums auf dem Monte Rite übernahm, besuchte ich Stephan in seinem Münchner Atelier am Harras und lud ihn zu einer Besichtigung des Monte Rite ein.


Inzwischen hatte sich das ruinöse Fort gewaltig verändert. Auf dem Dach anstelle der drei Gefechtsstände mit ihren Kanonen leuchteten weithin Skulpturen aus Stahl und Glas, Kristallen gleich, Tageslichtspender für den darunterliegenden Museumsparcours. Innen gleicht die renovierte „Ex-Batteria“ heute einem langen Kirchenschiff mit 20 Nischen für Seitenaltäre, Kabinetten, in denen einst wachhabende Soldaten schliefen und in denen Messner nun Phase für Phase die Erschließungsgeschichte der Dolomiten und ihrer Protagonisten erzählt. Stephan kam mit seiner kleinen Tochter Philippa nach Brixen, wir frühstückten gemeinsam im Hotel Elephant, und dann fuhr uns Reinhold im Auto zum Monte Rite. Während der fast dreistündigen Fahrt durch die Dolomiten sprachen wir ständig – sehr zum Leidwesen von Stephans Tochter – über das Wunschbild und das Ideal eines Bergmuseums. Als wir ankamen, stiegen wir gemeinsam aufs Museumsdach und betranken uns an dem Wahnsinnsblick und waren plötzlich kleine Menschen in einem überwältigenden alpinen 360-Grad-Panorama. Die Dolomiten! Korallenriffe ohne Meer! Tizian, selbst im Cadore geboren, hat sie gemalt. Arthur Schnitzler hat sie in Fräulein Else (1924) als Metapher benutzt. Gustav Mahler hat dort das Lied von der Erde vertont, und Oskar Kokoschka hat Mahlers abenteuerlustige Frau unter ihren Wänden als Windsbraut (1913) gemalt. Gio Ponti schließlich wollte sie in den 1930er-Jahren durch ein gigantisches Hotel-und-Seilbahn-Netz zwischen Bozen, Gröden und Cortina zu einer Hochburg des Tourismus ausbauen. 340 Millionen Jahre sind diese Berge alt, älter als die ersten Menschen und Sehnsuchtsorte, deren Schönheit noch heute Schmerzen verursachen kann.

Stephan entschied sich, in den Hauptgang des Kirchenschiffs drei voluminöse Berge zu stellen, die erratischen Blöcken gleich den Weg versperren. Aber die Skulpturen des Antelao, des Monte Pelmo und der Civetta sind mehr: In ihre Sockel sind kleine Nischen geschnitten, Mini regale für Bücher mit der weltweiten Auflage von einem einzigen Exemplar, mit Titeln wie Stephan Huber, Tod im Tiefland. Eine Studie über die Verdrängung, Labyrinth Verlag, oder Stephan Huber, Soziales Milieu im Höllengebirge, Verlag Second Step, wie meist bei seinen fiktiven Büchern haben diese Werke einen psychosozialen Bezug.

Hamish Fulton ist auf dem Sentiero Botanico rund um den Monte Rite gewandert und hat als Ergebnis im Lichtschacht der ersten Kristallkuppel die Arbeit Mountain Skylines July 2002 realisiert. Hubers damaliger Assistent David Regehr hat eine Gewitternacht auf dem Gipfel verbracht, die ihm spontan zu seiner Ätzarbeit auf Metall Nachts im Norden (2002) mit zuckenden Blitzen verhalf. Der Designer Peter Seipelt stattete die 20 Kabinette mit Vitrinen voller Bergsteiger- Devotionalien aus und war verantwortlich für die Hängung der Gemälde. Eines der Kabinette wurde zum Schluss ad hoc ausgestattet, als Stephan aus einem wilden Konglomerat von Seilen, Steinschlaghelmen und Felsbrocken die Arbeit Bergsturz (2002) schuf. Grandios war der Blick im Museum am Abend. Wenn man durch die Fenster die „echten“ Berggipfel sah, die der Sonnenuntergang rosa und blau und grünlich färbte, während sich gleichzeitig von innen in denselben Fenstern die weißen Huber-Gipfel spiegelten und das alles umgeben war von Gemälden von Thomas Ender, E. T. Compton und Christian Morgenstern. Das perfekte Dolomiten-Nirwana.

Wir wohnten auf dem Gipfelplateau im nebenan liegenden Rifugio, einer ehemaligen Mannschaftskaserne, oder in den warmen Nächten des Frühsommers von 2002 in Schlafsäcken auf dem Museumsdach, hauptsächlich aber unten in Cibiana im Albergo Remauro. Da gab es eine wunderbare Bar, mit einer üppigen Dekoration aus alten, rostigen Eisenschlüsseln, von den Vorfahren der Eismacher hergestellt. Hier erkundigten sich die Einheimischen bei uns nach dem Stand der Dinge auf dem Berg und bedankten sich mit einem Grappa. Der junge Chef des Albergo war ein exzellenter Koch, und seine Mama bemutterte auch uns. Mein Büro war unterm Dach, ein Doppelzimmer mit Kinderbett, in dem die Projektunterlagen ruhten. Zur Eröffnung am 30. Juni 2002 kam gefühlt das halbe Cadore, die Schickeria von Cortina, und viele Münchner herauf. Hamish fand, das reizvollste an einem richtigen Bergmuseum sei, dass der Aufstieg mühsam und anstrengend ist, aber zu seinem Leidwesen hatte die Gemeinde von Cibiana einen Jeep-Shuttle organisiert.

Ein paar hundert Meter unterhalb des Gipfels gibt es ein weiteres Kasernengebäude aus dem Ersten Weltkrieg, das leer stand. Bis der Professor Stephan Huber von der Akademie der Bildenden Künste in München auf die Idee kam, mit seiner Klasse im Sommer 2010 dort einzuziehen. Geplant war eine Ausstellung, die vor Ort erarbeitet und mit einfachsten Materialien und Mitteln hergestellt werden sollte. Es gab keinen Strom, kein Licht und keine Fensterscheiben. Die Ausstellung und der Aufenthalt wurden von der Gemeinde Cibiana und von Reinhold unterstützt. Untergebracht waren die Studenten und ihr Professor im Rifugio gleich neben dem Museum. Nachts saßen sie oft auf dem flachen Betondach des Forts inmitten des grandiosen Panoramas. Dann war die Natur stärker als die Kunst. Die Umgebung und das über den Berg verteilte architektonische Areal mit der Kaserne, dem Tunnel, dem Rifugio und dem Museum besaßen eine magische Faszination.

Die Ausstellung hieß Ultima Vista und thematisierte im weitesten Sinne Einsamkeit und Rückzug – das Menschenferne des Monte Rite, aber natürlich auch den militärischen Kontext.. Es gab unter vielen anderen einen Raum mit Eisenbetten, auf denen jeweils eine mit einem Text bestickte Soldatendecke lag. Einen Raum mit bemalten Uniformen. Überdimensionierte Bienenwaben. Ein Plateau mit einer abstrakten Berglandschaft. Abends auch Performances am Feuer.

Hoch oben in den Bergen arbeiteten die jungen Künstler intensiv, aber nicht militärisch kollektiv, sondern frei und unabhängig. Es war eine in sich geschlossene, gelungene Ausstellung. Sie war zwar öffentlich, hatte aber mehr mit Selbsterfahrung als mit Repräsentation zu tun, konnte einen Monat lang von den vorbeiziehenden Bergwanderern betrachtet werden. Zur Eröffnung kamen trotz der gefühlten Lage am Ende der Welt viele Protagonisten aus dem Kulturbereich Südtirols und Münchens, die alle vom Zauber des Monte Rite angesteckt wurden.

Seitdem sind etliche Jahre vergangen. Reinhold kann inzwischen sogar Berge versetzen. Zum Beispiel die von Stephan. So ist jetzt der Antelao vom Monte Rite hinunter ins Tal versetzt worden, in eine Art Basecamp, das er dort mit einem Großteil der Gemälde teilt. Man kriegt die Probleme mit der Feuchtigkeit oben im Fort nicht in den Griff. Die Civetta und der Monte Pelmo sind zurzeit im Zaha-Hadid-Bau auf dem Kronplatz gelandet. Wer weiß, wie lange, denn Reinhold plant ein weiteres Museum: das MMM Rocca in Sexten.


Uschi Demeter

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